
Rohrweberin Jenny Wagner verknotet jeden Stab per Hand.
Fotos: SPREE-PR/Petsch
Die Letzten ihrer Zunft
Die Rohrweber von Pritzerbe
Faszination traditionelles Handwerk! Vor der industriellen Revolution bestimmten die Zünfte das Wirtschaftsleben – heute sind viele Handwerksberufe so gut wie ausgestorben. Die STADTWERKE ZEITUNG hat „Die Letzten ihrer Zunft” besucht. Diesmal: die Rohrweberei Pritzerbe (Potsdam-Mittelmark). Das Weben von Schilfrohren zu Rohrmatten ist eine jahrhundertealte Handwerkstradition in Brandenburg. Im Ortsteil Pritzerbe der Stadt Havelsee wird sie noch gepflegt – in Handarbeit.
Wir sind die letzte Rohrweberei in Deutschland. Wenn wir schließen, stirbt auch dieses traditionelle Handwerk aus“, sagt Wolfgang Wagner. Seit fast 30 Jahren leitet der 64-Jährige nun die Manufaktur, die Schilfmatten herstellt und heute auch Museum und Bildungsstätte zugleich ist. Über eine Projektleitung ABM war der einstige Vollmatrose der DDR-Fischfangflotte 1998 gekommen und ist hier gewissermaßen „gestrandet“. Sein Ziel: Das Wissen für künftige Generationen bewahren.
Wer die Rohrweberei erreicht, weiß warum sie sich hier 1946 im früheren Schützenhaus angesiedelt hat. Sie liegt in der wasserreichen Gegend idyllisch eingebettet von Feldern am Pritzerber See, mit dem Rohstoff direkt vor der Tür. Damals waren Schilf-Dämmmatten als wichtiger Bau- und Isolierstoff oder als Abdeckmatten für Gärtnereien gefragt. Heute entstehen Sichtschutzelemente, Balkonverkleidungen, Rollos und sogar Sonnenschirme. Architekten bestellen Putzträgermatten für die Denkmalpflege, denn Originalmaterial ist rar.

Nach der Ernte Ende Februar wird das gebündelte Schilf (Schocks) zur Trocknung zu Zelten aufgestellt.
Foto: SPREE-PR/Petsch
Biennale-Auftrag
Ende April herrscht hier emsiges Treiben. Ein Großauftrag ist eingetrudelt. 60 Quadratmeter Rohrmatten werden für eine Ausstellung der 13. Berlin Biennale (14. Juni bis 14. September) gewebt. Das vierköpfige Team hat alle Hände voll zu tun. Mitarbeiter Stefan Brauer sortiert die Halme nach Länge und Durchmesser. Aus Naturschutzgründen wird nicht mehr Schilf aus dem See verwendet – es dient als Brutstätte vieler Vogelarten. „Wir nutzen jetzt Miscanthus, eine bambusähnliche Pflanze“, erklärt Chef Wolfgang Wagner. „Wir bauen sie selber auf knapp 3.000 Quadratmeter an. Miscanthus ist robust, braucht keinen Dünger und kann 25 Jahre lang geerntet werden.“ Die vollkernigen Halme sind besonders langlebig: Unsere Matten halten im Freien bis zu zehn Jahre – Baumarktware zerfällt oft schon nach zwei.“

Stefan Bauer und Jenny Wagner zeigen ein fertiges Produkt: Diese Rohrmatte wurde für die 13. Berlin Biennale gewebt.
Foto: SPREE-PR/Petsch
Präzision und Handarbeit
Rohrweberin Jenny Wagner legt einen Halm in die Vorrichtung eines über 100 Jahre alten Webstuhls. Dieser wurde schon zur Gründung gebraucht angeschafft. Sie schnappt sich einen der fünf versetzten Fäden, zieht unter Spannung eine Schlinge und verknotet alles doppelt. „Ich fange in der Mitte an, damit sich nichts verzieht“, erklärt sie. Sitzen die Knoten, werden die Enden auf gleiche Länge geschnitten. Danach folgt der nächste Halm.
„Durch den Doppelknoten trennt sich – anders als bei Baumarktware – der Faden und somit die Matte nicht auf“, erklärt die Rohrweberin. „Und der Kunde kann seine Matte auch beliebig zuschneiden.“ Für die Berlin Biennale werden Matten von bis zu 4,20 Meter Länge gefertigt. Dafür benötigt Jenny Wagner etwa sechs Stunden.
Material ist genug da. „Eine Ernte reicht immer für ein Produktionsjahr“, sagt Leiter Wolfgang Wagner. Die diesjährige Ernte – immer von Anfang Januar bis Ende Februar – steht gerade zum Trocknen zu Zelten aufgebaut auf dem Gelände der Rohrweberei. Sie bestehen aus vielen „Schocks“, also 60 Zentimeter dicken Bündeln. „Würde man das Material grün verarbeiten, würde es in den Matten nachtrocknen und aus der Schlingung später rausrutschen.“
Glücksfall Nachlass
In Zukunft wird auch ein Teil der Arbeit maschinell unterstützt werden. Grund ist ein unerwarteter Glücksfall. Die Witwe eines Rohrwebers aus Hennigsdorf hatte kürzlich Wolfgang Wagner zwei mechanische Webstühle aus dem Nachlass überlassen: „Bevor die auf dem Schrott landen – das war ihr Wunsch“, so Wolfgang Wagner.
Besucher sind in der Rohrweberei Pritzerbe jederzeit willkommen. Seit 2015 ist der Standort auch Museum und Lernort für Schulklassen.

Der Schilferlebnissteg führt 43 Meter durch den Schilfgürtel und gibt besondere Einblicke in das Leben der Schilfbewohner.
Foto: SPREE-PR/Petsch
Besuchen Sie die Rohrweberei Pritzerbe
14798 Havelsee
Geöffnet: Mo – Mi 9 – 15 Uhr,
Do/Fr 9 – 18 Uhr, Sa 14 – 18 Uhr,
So 14 – 17 Uhr, Gruppenführungen am Wochenende nach Vereinbarung
Eintritt: 3 €, ermäßigt 1,50 €,
Kinder unter sechs Jahren frei.
Tel. 033834 50236

Kinder können im Museum an Handwebrahmen selber kleine Matten fertigen.
Foto: SPREE-PR/Petsch
Museum und Erlebnissteg
Die Stadt Havelsee unterstützt die Rohrweberei. Das Museum bietet Gruppenführungen (nach Voranmeldung) durch Werkstatt und Trockenscheune. Kinder können hier selbst eine kleine Matte am Handrahmen anfertigen oder Nistkästen bauen und lernen die Tiere im Schilf kennen. Mit etwas Glück können sie die vom angrenzenden 43 Meter langen Erlebnissteg durch das Schilf dann selbst beobachten. Links ist der Biberbau, rechts brüten die Gänse und gleichzeitig erklingt im Sommer gratis das Froschkonzert. Infotafeln erklären die Artenvielfalt, beim Naturquiz kann jeder sein Wissen testen.